Reform des Zivilprozesses: Die Zukunft von Massenverfahren
I. Digitaler Wandel im (Zivil-)Prozess: Chancen und Herausforderungen für die Anwaltschaft
Demographie und Digitalisierung drängen auch die Rechtspflege zur Veränderung. In wenigen Jahren werden deutlich weniger Jurist:innen eine komplexer werdende Rechtswelt bewältigen müssen. Dieser Umstand ist angesichts der Zahlen aus der juristischen Ausbildung und des Alters der Berufsträger:innen in Justiz und Anwaltschaft unbestreitbar.
Gleichzeitig scheint die Rechtspflege im Vergleich zu vielen anderen Branchen eine letzte analoge Bastion in einer sich digitalisierenden Welt zu sein. Aber: Viele arbeiten daran, hier Schritt zu halten.
II. Der Schlüssel kann nur Effizienzgewinn sein
Das gemeinsame Ziel von Justiz und Anwaltschaft ist klar. Gerichtsprozesse müssen so geführt werden, dass die daraus resultierenden Urteile in der breiten Masse der Bevölkerungsteile akzeptiert werden, weil Kläger:innen gehört werden und ihre Interessen gewahrt sehen.
Besonders wichtig ist dabei, Gerichtsverfahren in einem akzeptablen zeitlichen Rahmen abzuschließen und Kosten möglichst niedrig zu halten, damit auf eine Durchsetzung von bestehenden Ansprüchen nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen verzichtet wird. Werden Rechtsschutzlücken zu groß, gefährdet dies die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaates.
Zielführend scheint es deshalb zu sein, digitale Instrumente dort einzusetzen, wo sie Zeitgewinne ermöglichen, ohne zu inakzeptablen Qualitätsabstrichen zu führen.
Einige Möglichkeiten, den Zivilprozess effizienter zu gestalten, sollen im Folgenden beleuchtet werden.
1. § 128a ZPO als Anspruch der Parteien formulieren
Eines der wichtigsten Instrumente, um Zeitgewinne auf Seiten der Anwaltschaft zu ermöglichen, ist die Videoverhandlung. Die An- und Abreise zu Terminen und die damit verbundenen Zeit- und Reisekosten haben für Mandant:innen keinen Mehrwert, es sei denn die Prozesslage – Anhörung Sachverständiger:innen, Vernehmung von Zeug:innen, intensive Vergleichsverhandlungen etc. – legt dies nahe.
Problematisch ist, dass die Gewährung der Möglichkeit, ein einem Gerichtstermin digital teilzunehmen, einem Glücksspiel ähnelt. Abhängig von Region, Gericht und sogar Entscheider:in im Einzelfall werden grundlos Anträge nach § 128a ZPO abgelehnt, auch wenn die Videotechnik vorhanden ist.
Dies macht es bei der Annahme eines Mandats unmöglich zu kalkulieren, wie hoch der Arbeitsaufwand tatsächlich sein wird. Gerade bei Streitwerten, bei denen eine Terminsvertretung nicht wirtschaftlich sinnvoll eingebunden werden kann, führt dies automatisch zur Vergrößerung von Rechtsschutzlücken, weil Verfahren nicht mehr wirtschaftlich zu führen sind. Und dies ohne Not.
In einem Großteil der Verfahren – insbesondere wenn lediglich Rechtsfragen über den Ausgang des Prozesses entscheiden – sind Videoverhandlungen ausreichend, um eine qualitativ hochwertige Verhandlungsabwicklung zu gewährleisten.
Es spräche hier auch nichts dagegen, die Verhandlungen außerhalb der Gerichtssäle in den Gerichtszimmern oder sogar im Home-Office durch die Kammern führen zu lassen. Im überwältigenden Teil der Prozesse besteht absolut kein Interesse der Öffentlichkeit, an diesen teilzunehmen – dies zeigt die Praxis klar. Und sollte dies einmal doch der Fall sein, könnte man dies über Antragserfordernisse anderer Interessierter kompensieren.
Formuliert man § 128a ZPO als Anspruch der Parteien (mit Ausnahmen), vergrößert sich das Spektrum an Streitwerten, zu denen Kanzleien kostendeckend Prozesse führen können.
2. § 128 Abs. 2 Satz 1 ZPO bei Antrag lediglich einer Partei und Zweckdienlichkeit
Im Rahmen von Massenverfahrenskomplexen werden zahlreiche mündliche Verhandlungen schlicht formell durchgeführt. Ohne einen nennenswerten Mehrwert zu bringen, kostet dies Zeit und Ressourcen. Für zahlreiche Verfahrenskomplexe würde eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren keine Rechtsschutzverkürzung bedeuten. Dies zum Beispiel, wenn angesichts der obergerichtlichen Rechtsprechung die Rechtslage klar ist oder über den Sachverhalt nicht gestritten wird.
Natürlich kann es aus prozesstaktischen Erwägungen für eine der Parteien sinnvoll sein, auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu bestehen, allein wegen der damit einhergehenden Verzögerung, der damit einhergehenden Verteuerung der Rechtsverfolgung oder aber um keine Anreize für neue Klageeinreichungen zu setzen. Die Möglichkeit, den Prozessfortgang zu verzögern, erhöht prinzipiell die Verfahrenskosten und belastet die Justiz.
Ein Instrument für weiteren Effizienzgewinn könnte darin liegen, im Falle eines Antrags einer der Parteien und einer aus Sicht des Gerichts bestehenden Zweckdienlichkeit, den Übergang ins schriftliche Verfahren zu erleichtern. Gründe, die im Einzelfall die Durchführung der mündlichen Verhandlung nahelägen, müssten dann von der Partei vorgebracht werden, die auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung besteht.
3. Einfaches Instrument zur Verjährungshemmung schaffen
Regelmäßig bestehen Mandant:inneninteressen zunächst nur darin, ihre Ansprüche vor der Verjährung zu schützen, bis sich eine obergerichtliche Klärung eines Verfahrenskomplexes ergeben hat. Letzteres kann sich wegen des in der ZPO vorgesehenen Instanzenzugs über einige Jahre hinziehen.
Derzeit gibt es jedoch nur die Möglichkeiten, ein Verfahren per Klage loszutreten – mit allen damit verbundenen Kostenrisiken – oder vollständig von der Durchsetzung seiner Ansprüche abzusehen, falls die (anteilige) Verjährung droht.
Schafft man für Massenverfahren eine Zwischenlösung – etwa eine verjährungshemmende Anmeldung von Ansprüchen bei Gericht – würden dies Kostenrisiken für Mandant:innen erheblich reduzieren und die Gerichte nicht mit Verfahren belasten, zu denen die Rechtslage ohnehin zeitnah obergerichtlich geklärt würde.
Für ein solches Vorgehen sind Massenverfahren – im Gegensatz zu herkömmlichen Einzelverfahren – besonders geeignet, da man regelmäßig nicht im Einzelfall herausarbeiten müsste, ob eine bestimmte Entscheidung in einem bestimmten (anderen) Verfahren Relevant für den vorliegenden Streit hätte. Dies ist in Massenverfahrenskomplexen häufig leicht zu erkennen.
Fazit
Es stehen mit Video-Verhandlungen und der Möglichkeit, ins schriftliche Verfahren überzugehen, bereits Maßnahmen zur Verfügung, die mit wenig Aufwand einen Effizienzgewinn versprechen. Die gesetzgeberischen Änderungen wären leicht durchzuführen. Was der Zivilrechtspflege noch fehlt, ist ein ergänzendes Instrument zur leichteren Verjährungshemmung für Ansprüche, für die in einem Parallelverfahren eine höchstrichterliche Entscheidung zeitnah zu erwarten ist.